Als es in Seebach noch ein paar Dutzend Bauernhöfe gab, war es selbstverständlich, dass die Bauern ihr Vieh auch über die öffentlichen Strassen auf die Weide führten, wenn es keinen anderen Weg gab. Manchmal war auch ein Weidwechsel nötig. Eine solche Strasse sah dann meist etwas bemitleidenswert aus, da sie danach mit vielen Kuhfladen 'verziert' war. Doch die gelegentlichen Autos verwirbelten die Fladen bald wieder, sobald sie etwas angetrocknet waren und der Regen sorgte dann dafür, dass die Strassen wieder sauber wurden.
Noch in den 1950er Jahren, also zu meiner Jugendzeit, gehörten Viehtriebe über die Köschenrütistrasse, die Seebacherstrasse, die Friesstrasse und die Felsenrainstrasse fast zum Alltag. Vermutlich waren noch mehr Strassen betroffen, doch war ich damals noch so jung, dass ich nicht das ganze Quartier überblicken konnte.
In allerbester Erinnerung geblieben sind aber die Viehtriebe der Bauern Wüst an der Felsenrainstrasse und jene eines Bauern in der Köschenrüti, vermutlich war es Albert Kläusli, welche ich selber beobachten konnte. Dorffotograf Willy Burkhardt war im Jahre 1957 eher zufällig Zeuge eines solchen Viehtriebs und hat damals die vermutlich einzigen überlebenden Fotos eines Viehtriebs in Seebach geschossen.
Arthur Wüst trieb in den 1940er und 1950er Jahren seine Kühe vom Hof an der Felsenrainstrasse zum Felsenrainplatz und dann weiter durch die Eisfeldstrasse und von dort durch die Unterführung zur Weide links der Eisfeldstrasse. Inzwischen ist von einem zweiten Zeitzeugen bestätigt, dass es Arthur Wüsts Kühe waren und auch die genaue Lage der Weide steht nun fest. Ein Detail hat Marcel Fisler noch als Schüler beobachtet: Die Kuhherde wurde häufig von einer hübschen Magd begleitet, welche später ziemlich sicher die Frau von Arthur Wüst wurde.
Das war jeweils ein recht aufregendes Schauspiel. Begleitet von Knechten und einem Hund trieben sie die Tiere voran, hielten an der Schaffhauser- und Friesstrasse den Autoverkehr, manchmal auch das Tram auf. Dabei muhten die Kühe oder wichen auf das Trottoir aus. Mit Geisseln leiteten die Knechte die Tiere auf ihrem Weg. Nach der Prozession präsentierten sich die Strassen da und dort kräftig mit Kuhfladen verziert. Für die Buben war das jeweils ein Heidenspektakel, wenn die Autofahren über die frischen Kuhfladen fuhren und damit auch noch die Trottoirs oder Fussgänger voll spritzten. Da empfahl es sich jeweils, genügend Distanz zu halten.
Vereinzelt gab es auch Autofahrer, welche glaubten, mit Hupen gehe es ein bisschen schneller zwischen den Kühen hindurch. Zwar gab es noch nicht so viele Autos, doch es hatte schon etwas Durchgangsverkehr. Und ungeduldig waren diese Verkehrsteilnehmer auch schon damals.
Die Viehtriebe durch die Köschenrütistrasse vorbei an der Siedlung Schönau erfolgten vorab in der Zeit um 1951 bis 1955, als ich im Schönauring wohnte. Solche Ereignisse zogen fast alle dortigen Buben und Mädchen an und jedermann staunte über das gewaltige Spektakel, wenn die Kühe muhten, die Strasse verkakten oder auf das Trottoir auswichen. Ein noch grösseres Spektakel boten dann meist die Autofahrer von der Köschenrüti her, welche wie in einer Prozession im Schritttempo hinter den Kühen her führen und auf die nächste Gelegenheit warteten, wo sie ihren Wagen wenden und einen anderen Weg suchen konnten. Diese Zeiten sind heute vorbei, auch wenn es gelegentlich noch vorkommen kann, dass die eine oder andere Kuh der verbliebenen Höfe Reissaus nimmt und dann meist nur noch mit Polizeihilfe eingefangen werden kann. Siehe dazu unter Kuh im Eichrain!
Quellen: - Willy Burkhardt 1957 - Ernst Ingold 1953 (sah den Viehtrieb an der Felsenrain- und Friesstrasse) - Marcel Fisler 1953 (sah den Viehtrieb an der Fries- und Eisfeldstrasse) - OGS-eigene 1951-55 - Gerda Gasser (Hinweise zur entwichenen Kuh 2002)