Elefant Tantor war zum Zeitpunkt seines Kaufes etwa neun Jahre alt und wurde beim Zirkus von Carl Hagenbeck in Hamburg gekauft. Er wurde per Bahn in die Schweiz verfrachtet und stammte ursprünglich aus Singapur, doch seinen Namen bekam er bei Hagenbeck. Tantor ist der übliche Name für Elefanten in Mangani, einer fiktiven Affensprache in den Tarzan-Geschichten von Edgar Rice Burroughs. Ein mehrfach zitiertes Gerücht besagt, dass Carl Hagenbeck bis heute auf die Zahlung wartet. Ob's stimmt?
Wie kam es zu dem Unfall?
Einmal brach Elefant Tantor des Seebacher Tierparks des nachts aus und schaffte es, über die Tiergartenstrasse zur Schärenmoosstrasse zu gelangen. Dabei hatte das gute Tier auch Schäden an Obstbäumen verursacht, indem es Äpfel von Bäumen riss und Äste abknickte. Auf seiner Wanderung über die Schärenmoosstrasse blieb es offenbar zu lange auf dem Bahngleis stehen, denn es senkten sich die Barrieren und ein Frühzug kam angebraust. Da es angeblich leicht neblig war, sah der Lokführer das Tier zu spät und trotz sofort eingeleiteter Notbremsung erwischte die Lok den Elefanten und verletzte ihn schwer. Nach anderen Aussagen soll der Lokführer das Tier zwar gesehen, es aber für eine Kuh gehalten haben, da in diesem Land frei herumlaufende Elefanten eher selten sind. Daher betätigte er zuerst die Zugpfeife, weil Kühe dann sofort die Flucht ergreifen. Leider war das ein Irrtum. Der Elefant erhielt von der Lok einen kräftigen Schubser und purzelte das Bord hinunter. Er musste nach einer veterinärmedizinischen Untersuchung durch einen Seebacher Metzger getötet werden. Das war etwa eine halbe Stunde nach dem Unfall.
Warum leitete der Lokführer die Notbremsung so spät ein?
Es war übrigens keine Dampflok, wie man gelegentlich hörte, sondern aufgrund der damaligen Lokeinsatzpläne mit grosser Wahrscheinlichkeit eine E-Lok des Typs Ae 3/6 I mit Buchli-Antrieb. Auch die Sache mit dem Nebel, welche dem Lokführer die Sicht verunmöglicht haben soll, entspricht kaum den Tatsachen. Dies kann man aus den damaligen Wetterdaten erkennen. Ein Zeitzeuge erinnerte sich noch, dass an diesem Tag gutes und warmes Wetter herrschte und zwar von früh morgens weg. Die Sicht war an jenem Sonntagmorgen klar, aber an einem 18. August 1929 ist es um 4.56 Uhr eben erst etwas dämmerig. Das war der Grund für die schlechte Sicht. Der Lokführer hat die Notbremsung sofort eingeleitet, sobald er sich der Gefahr bewusst wurde, doch auf die kurze Distanz war es nicht möglich, den Zug ganz zum Halten zu bringen.
Wie starb der Elefant?
Über die Art des Todes von Tantor gibt es auch zwei Varianten. Die erste meint, dass das verletzte Tier selbständig starb, die zweite besagt, dass ihm ein herbeigerufener Seebacher Metzger namens Hegetschwiler den Gnadenschuss geben musste, um ihn von den Schmerzen zu befreien. Dies allerdings erst, als er sich versicherte, dass das Tier keine Heilungschance mehr hatte. Die 'veterinärmedizinische' Untersuchung wäre demnach durch einen Metzger erfolgt. An dieser Geschichte gibt es einen Haken. Um 1929 gab es in Seebach keinen Metzger dieses Namens, auch keinen Störmetzger und auch keinen Tierarzt. Es gab 1929 überhaupt keinen Seebacher dieses Namens. Falls der Name stimmt, dass musste er aus der weiteren Umgebung stammtem.
Was geschah mit dem Tier?
Fuhrhalter Gottlieb Morgenthaler schleifte das tote Tier mit drei Pferden zurück in den Tiergarten, wo man über die weitere Verwendung des Tieres sinnierte. Da der Zirkus «Kapitän Schneider» (Werbespruch: «Mit den 100 Löwen») in Zürich gastierte, wurde das Fleisch an diesen Zirkus verkauft, wobei der Elefant durch den Seebacher Metzger Bächtold zerlegt wurde. Gottlieb Morgenthaler transportierte die Fleischstücke in Tüchern verpackt mit 6 Pferden zum Zirkus auf der Sechseläutenwiese.
Die in Seebach verbliebenen Eingeweide warf man den Krokodilen vor, das für den Zirkus nicht Verwertbare wie Füsse, Ohren, Schädel, Haut usw. wurde von einem Fuhrhalter, dessen Name der OGS entfallen ist, mit einem Pferdefuhrwerk in das Riedenholz gefahren, wo man es westlich des Tannenputsches (Siebentannen) am Waldrand vergrub! Dies geschah allerdings nicht etwa illegal, vielmehr war dieser Ort der «Seebacher Chäibenwinkel», also die offizielle Tierkadaverentsorgungsstelle oder etwas freundlicher gesagt: Der Tierfriedhof.
Die von den Löwen entbeinten Knochen wurden während der ganzen Gastzeit des Zirkus' den Besuchern gezeigt. Diese Details wurden von alten Seebachern mehrfach bestätigt, insbesondere von Hans Frei und Peter Moscheni. Übrigens waren es beim Auftritt des Löwenzirkus in Zürich nach Auskunft von Hans Frei nur rund 60 Löwen. Aber immerhin! Einiges vom Text stammt aus zitierten Zeitungsberichten der NZZ und des Volksrechts.
Im Streit um die eigentliche Unglücksursache gab es lange Zeit fünf Lager:
1. Racheakt der Anwohner
Das eine Lager glaubte fest an einen Racheakt, möglicherweise initiiert durch sich infolge des jahrmarktähnlichen Betriebs gestört fühlende Anwohner, indem diese vermutlich Lausbuben beauftragten, den Elefanten zu befreien, um dem Zoo ein bisschen Ärger zu bereiten. Diese Ansicht vertrat Schreiner Karl Meyr, Katzenbachstrasse 46, gegenüber Roman G. Schönauer, dem Autor des Neujahrsheftes 1981 über den Tiergarten mit scheinbar wissendem Lächeln, aber auch gegenüber einem Zeitungsberichterstatter der Vorstadt. Auch Albert Bader zählt zu diesem Lager.
Angesichts des angerichteten Schadens und dem Tode des Elefanten dürfte es dem allfälligen Täter aber gar nicht mehr wohl gewesen sein. Lausbuben können insofern ausgeschlossen werden, als ihr kindliches Gemüt es kaum ausgehalten hätte, darüber ewig zu schweigen. Die OGS hat alle dort wohnenden Personen aufgrund ihrer Personaldaten, Angaben von Zeitzeugen ein wenig überprüft, konnte aber keinen finden, dem man so eine Tat zumuten hätte können. Allerdings war es nicht möglich, nach 70 Jahren noch jeden einzelnen Bewohner zu erfassen, geschweige denn, eine Wesensprüfung vorzunehmen. Das Ergebnis der OGS ist also sehr relativ.
So gesehen, erfährt die Meinung des ersten Lagers zwar einen gewissen Dämpfer, doch ausgeräumt werden konnte der Verdacht nicht. Dass einige sonst hervorragende Kenner der Seebacher Szene diesem Lager aufsassen, dürfte aber wohl eher mit der Entrüstung zusammen hängen, welche die ersten Verdächtigungen auslösten. Zudem ist anzunehmen, dass solche Gerüchte gerade von den Verantwortlichen für den Elefanten bewusst gestreut worden sein könnten, um die Ermittler von ihren eigenen Fehlern und Unterlassungen abzulenken.
2. Elefant öffnete das Schloss selbst
Das zweite Lager jedoch glaubte, und dazu war auch Hans Frei zu zählen, dass der Elefant das Schloss wie oben beschrieben, selber mit dem Rüssel öffnete. Das Marrenschloss*) war von so grober Bauweise, dass dies durchaus denkbar wäre. Sein Vater besprach sich ausgiebig mit Fredi Knie und dieser soll das für möglich gehalten haben. Wenn der Elefant aber immer wieder frei kam, weil er das Schloss selber öffnete, hätten die Wärter sicher rechtzeitig eine andere Art Kettenschloss verwendet. Das war aber nicht der Fall. Daher ist dieses Lager um Hans Frei stets klein geblieben.
*) Ein Marrenschloss ist ein Vorhängeschloss. Tom Rechsteiner hat dies der OGS gemeldet und auch das Mundartwort 'Marre' geliefert. Das Schweizerische Idiotikon führt es auf March = Grenze, Abgrenzung zurück.
3. Aufsichtspflicht vernachlässigt
Das dritte Lager vertrat die Ansicht, wenn der Elefant wann immer er es beliebte, auf die Strasse gehen konnte, um die Tramführer zu ärgern (Siehe Haltestelle Tantor!), dann könnte man den Racheakt ausschliessen. Viel eher wäre anzunehmen, dass die Verantwortlichen für den Elefanten ihre Aufsichtspflicht nicht so streng nahmen und den Elefanten ab und zu mal 'vergassen', am Abend genügend zu sichern.
Eine gewisse Laisser-faire-Haltung dürfte sich eingeschlichen haben, da ja nie etwas passierte. Dies wird untermauert durch die zahlreichen Störmanöver des Elefanten beim Trambetrieb. In der Unglücksnacht war zum Beispiel die Stalltür nicht verschlossen. Das Schloss war unversehrt. Es wäre also sehr gut möglich, dass auch vergessen wurde, den Elefanten richtig anzubinden. Angeblich sprach aber dagegen, dass am Morgen in der Nähe des Elefantenhauses das geöffnete Schloss in der Wiese liegend aufgefunden wurde. Das ist allerdings kaum ein Argument, denn das könnte der Elefant mit den Beinen oder dem Rüssel mitgeschleppt haben. Die Sache mit dem Marrenschloss ist so sicher auch nicht, denn auf der nebenstehenden Foto sieht man den Elefanten im Stall mit einem dicken Seil gesichert!
4. Alfred Schlumpf liess den Elefanten frei
Das vierte Lager erinnert sich, dass Schlumpf einmal behauptete, ein schwarzer Panther sei ausgebrochen. Was in Wirklichkeit nicht stimmte. Er tat dies nicht, um den Leuten Angst ein zu jagen, sondern um den Zoo wieder in aller Munde zu bringen. Die Geschichte mit dem schwarzen Panther hörte die OGS schon als kleiner Bub, nur kannte sie damals den Zusammenhang nicht. Man vermutete nun, dass Alfred Schlumpf angesichts der immer knapper werdenden Barmittel einen Trick ausheckte, um erneut für Publizität zu sorgen. Also liess er den Elefanten absichtlich frei, ohne allerdings zu ahnen, welch' fatale Folgen das haben könnte. Solche Überlegungen hätten vielleicht zu ihm gepasst, doch Alfred Schlumpf war immerhin ein Polizist. Es ist daher kaum wahrscheinlich, dass er das Leben des Tiers aufs Spiel setzte, denn das widerspräche seinem beruflichen Ethos. Ein Polizist tut sowas nicht! Zum Zeitpunkt der Abklärungen durch die OGS lebte aber kein Vertreter dieses Lagers mehr, sodass es nicht mehr möglich war, 2002 noch Forschungen anzustellen.
5. Elefant streifte das Schloss ab
Das fünfte Lager ging davon aus, dass der Elefant in der Lage war, durch geeignete Bewegungen seines Fusses sich von der Fussschelle zu befreien. Dagegen spricht allerdings, dass das Schloss nach dem Unfall geöffnet auf der Wiese lag. Zu diesem Lager zählt Ernst Coendet. Welches die tatsächliche Ursache war, bleibt wohl für immer Spekulation. Dass es das Schloss tatsächlich gegeben hat, wurde der OGS 2002 von Ernst Coendet bestätigt, welcher wusste, dass das Schloss noch Jahrzehnte lang im Elefantenstall herum lag und später an einer Wand aufgehängt wurde. Dass der Elefant gar das Schloss mit dem Schlüssel selber geoffnet hat, ist aufgrund der eher grobmotorischen Möglichkeiten eines Elefanten eher unwahrscheinlich.
Epilog
Die Rechnung für den Elefanten Tantor soll, wie eingangs erwähnt, nicht bezahlt worden sein und das Geld für eine Versicherung fehlte offensichtlich ebenfalls. Immerhin soll sich die Tiergarten AG bereit erklärt haben, den SBB etwas an den Schaden zu bezahlen. Diese bezifferten ihn auf Fr. 15'000.--. Ob sich die Tiergarten AG nur bereit erklärt hat zu zahlen oder ob sie auch tatsächlich etwas bezahlt hat, erfährt man nirgends auf die Schnelle. Angesichts der äusserst prekären Kassenlage der Tierpark AG kann man aber annehmen, dass es bei der Absicht blieb.
Quellen: - NZZ 21.8.29 - Vorstadt 2005 (?) - NZZ 1929 - Volksrecht 1929 - Hans Frei - Ernst Coendet - Albert Bader - Peter Moscheni (Chäibenwinkel, Hegetschwiler) - Neujahrsblatt Zürich 11/12 1981 von Roman G. Schönauer - OGS-eigene - Wikipedia (Bedeutung des Namens Tantor) - Tom Rechsteiner (erklärte der OGS, was ein Marrenschloss ist)
Dies ist eine der wenigen Fotos von Tantor, dem unglücklichen Elefanten des Seebacher Zoos. Sie wurde dem Neujahrsblatt Zürich 11 von 1981, verfasst von Roman G. Schönauer, entnommen.
Diese Aufnahme des Elefanten Tantor stammt von Hans Frei, dem Sohn des Wirtes der «Alten Post». Hans Frei konnte sich 2002 noch an den Elefanten erinnern. Der junge Mann mit Krawatte war ein Mitarbeiter des Zoos.