Das Gammlerhaus befand sich an der Binzmühlestrasse 35 (1969) früher 8 (1913), Assek.-Nr. 57, und gehörte daher, genau genommen, zu Ã?rlikon. In Ã?rlikon war man aber auf das Gammlerhaus nicht eben stolz und verschwieg dessen Existenz lieber. Ausserdem trug das alte Bauernwohnhaus diesen Namen nur in seiner letzten Lebensphase, als es von Gammlern bewohnt wurde. Da das Haus jedoch nur wenige Meter vor der Grenze zu Seebach stand, nahm es eigentlich die ganze Sicht des in Seebach einfahrenden Autofahrers in Anspruch und diese Ansicht war nicht eben nobel. Das Haus litt in den letzten Jahren erheblich an seinem eigenen Alter von etwas über 100 Jahren, aber vor allem daran, dass die Stadt das Grundstück (Dreieck Binzmühlestrasse, Freisstrasse und Schaffhauserstrasse) vermutlich irgendwann zwischen 1957 und 1968 der Freihaltezone zuordnete, was zur Folge hatte, dass es so oder so dereinst dem Abbruch geweiht war und nicht mehr instand gehalten wurde.
Einige Seebacher ärgerten sich über das verlotterte Haus, weil es dem Quartierbesucher den Eindruck vermittelte, Seebach wäre ein Elendsviertel. Andere Seebacher hingegen meinten, es verdecke die auch schon recht verwitterten Wohnblöcke dahinter, welche ebenfalls den Ã?bernamen «Schandfleck Seebachs» trugen, weil sie mindestens so verlottert waren oder doch so aussahen. Weil man aber einem alten Bauernhaus eher verzeiht, wenn es verwittert aussieht, milderte es den Schock für die nach Seebach einfahrenden Besucher beim Anblick der dahinter auftauchenden alten Wohnblöcke ein wenig oder verkürzte doch die Dauer, bis man als Besucher fertig erschrocken war. Dies ist der erste Grund, warum das Gammlerhaus in der OGS erwähnt wird, der zweite folgt weiter unten.
Das Haus gehörte, wie die Bauweise verrät, ursprünglich einem Ã?rliker Bauern, dessen Name die OGS noch nicht ermitteln konnte. Im Jahre 1913 gehörte das Haus der Familie Eduard und Marie Schütz-Kohler und die waren bereits keine Bauern mehr, denn Eduard Schütz arbeitete als Fräser in der nahen Industrie. Denkbar wäre, dass seine Frau Marie Schütz-Kohler die Tochter des gesuchten Bauern war, denn sie ist für 1913 als Besitzerin des Hauses eingetragen. In diesem Falle hätte der vormalige Bauer Kohler geheissen. Kurz nach 1913 haben die Schütz-Kohlers ihre Liegenschaft offenbar verkauft und zwar an die Gebrüder Rychener, welche das Gewerbe einer Fuhrhalterei betrieben.
Die Rycheners waren aber keine Ã?rliker, denn sie wohnten 1913 noch nicht in Ã?rlikon und stammten ganz ursprünglich aus der Gegend des Berner Emmentals oder aus der weiteren Umgebung von Steffisburg. Wie es sie nach Ã?rlikon verschlagen hat, ist noch unergründet. Damit bleibt zumindest für die OGS die frühere Geschiche des Hauses noch unerschlossen, einzig mit der vagen Vermutung, dass es einmal einer Bauernfamilie namens Kohler gehört haben könnte. Die Beweggründe, warum die Rycheners ihre erst kurz zuvor erworbene Liegenschaft wieder verkaufen wollten, sind nicht überliefert. Jedenfalls suchten sie schon bald wieder nach einem Käufer für ihr Grundstück samt Bauernhof und fanden diesen im Jahre 1919 in der Person des Liegenschaftenverwalters der Maschinenfabrik Ã?rlikon (MFO), welcher im Hinblick auf künftigen Landbedarf für weitere Fabrikhallen vorzugsweise Liegenschaften aufkaufte, welche günstig waren und nahe beim bestehenden Betrieb standen. Die Liegenschaft wechselte den Besitzer für Fr. 50'000.--, das verriet offenbar die MFO dem Wochenblatt «die Vorstadt», welche meinte, dass das sehr wenig gewesen war. Doch bei den Preisen und Löhnen von damals war das gar nicht so schlecht, denn 1919 konnten die Rycheners damit je nach betriebenem Lebensaufwand gute 10 Jahre leben ohne noch nennenswert arbeiten zu müssen. Zum Bauernhof gehörte auch noch eine Remise aus Stein, welche in der Ecke Binzmühlestrasse / Schaffhauserstrasse stand. Sie ist auf der 1. Foto nebenan zu erkennen.
Die MFO wiederum hatte keinen plötzlichen Bedarf, an der Binzmühlestrasse bauen zu müssen und vermietete das Objekt vorerst einmal weiter. Ã?ber die Mieterschaft in den Jahren 1919 bis 1969 ist der OGS nichts weiter bekannt, doch ist ebenso bekannt, dass die MFO das Haus noch bis mindestens 1957 ganz ordentlich instand hielt. 1957 konnte man unmöglich von einem verlotterten Haus sprechen. Vermutlich verzichtete die MFO erst dann auf weitere Investitionen, als sie erkannte, dass sie für die Liegenschaft keinen Eigenbedarf mehr hatte. Mit der Eingemeindung Ã?rlikons zu Zürich wurden der MFO die Pläne irgendwann nach 1957 durchkreuzt, denn die Stadt zonte das Dreieck zur Freihaltezone um. In der Folge machte es keinen Sinn mehr, das Gebäude weiter zu halten. Zugleich wären auch Renovationen nötig geworden, um mit dem Bauamt in Zürich keinen Ã?rger zu bekommen, also entschied man bei der MFO, das Gebäude abzutragen und das ganze Grundstück der Stadt Zürich zu verkaufen.
Der Mieterschaft wurde 1968 gekündigt und ein Jahr später stand das Haus leer. Doch hatte die MFO hier die Rechnung ohne die Ã?rliker und Seebacher Gammler gemacht, welche alsbald ungefragt dort einzogen und das Haus in Beschlag nahmen. Daher bekam das Haus den Ã?bernamen «Gammlerhaus». Da stellt sich die Frage, was denn ein Gammler sei. Die Definition der OGS lautet: Ein Gammler ist ein Philosoph und Lebenskünstler, welcher sein Fachgebiet nicht an einem Lehrstuhl einer Universität lehrt, sondern seine Philosophie gleich direkt lebt. Er arbeitet durchaus, aber nur für sich, also im Haushalt, im Garten oder als 'Selbständigerwerbender' in seinem erlernten Handwerk, letzteres allerdings nur, wenn es unbedingt sein muss. Hingegen hütet er sich, seine Arbeitskraft direkt gegen Geld zu prostituieren. Diese Definition ist natürlich unvollständig, vermittelt aber doch, worum es geht.
Angesichts dieses Umstandes ist es begreiflich, dass die Anwohner um das Haus herum sehr unzufrieden waren, denn bei den dort eingezogenen Gammlern soll es sich nach Aussage der Nachbarn um welche gehandelt haben, die von Ordnung um das Haus und von Ruhe während der Mittagszeit und nach 22 Uhr abends etwas abweichende Vorstellungen hatten. Da sich die Nachbarn sehr gestört fühlten, reklamierten sie bei der Polizei, während es der MFO relativ egal war, was mit dem Haus bis zum Abbruch geschah, einen Schaden konnten sie am Haus keinen mehr anrichten. Die Polizei rückte auch mehrmals aus, doch weil die MFO keine Klage wegen Hausfriedensbruch einreichte, konnte die Polizei nicht viel mehr ausrichten, als die 'Lebenskünstler' zur Ruhe und Ordnung zu ermahnen. Weil die Reklamationen der Nachbarn nicht nachliessen, rang sich die MFO dann durch, das Haus abzubrechen. Mitte Januar 1970 wurde damit begonnen. Dass sich die Seebacher Bewohner gleich gegenüber dem Gammlerhaus belästigt fühlten ist der zweite Grund, warum das Gammlerhaus in der OGS Erwähnung findet.
Diese Schilderung basiert auf lediglich drei Berichten von alten Seebachern, Adressbucheinträgen sowie auf ein paar wenigen Notizen und Zeitungsberichten. Sie können daher durchaus etwas verzerrt wiedergegeben worden sein. Personen, welche in der Lage sind, diesen Bericht zu verbessern oder zu präzisieren, werden freundlich gebeten, sich bei der OGS unter «Kontakt» zu melden.
Marcel Fisler erinnert sich, dass auf dem dreieckigen Wiesenstück auch ein Usterapfelbaum gedieh und dass seine Eltern die Bewohner des Hauses persönlich kannten. Bei gelegentlichen Besuchen bekam er einen der süssen Ã?pfel. Leider kann er sich aber nicht mehr an den Namne der Bewohner erinnern.
- OGS-eigene (Zeitzeugenberichte) - Willy Burckhardt (Fotos) - «Vorstadt» 18.1.1970 (Bericht über Abbruchbeginn, Artikel von Beat Czybik) - www.verwandt.ch/ - Adressbuch von Ã?rlikon 1913 - Marcel Fisler (Usterapfelbaum)