Das Märchen ist spontan auf meinen Lippen entstanden. Ich dichtete es während dem ich meinen kleinen Kindern 1987 im Wohnwagen eine Gute-Nacht-Geschichte erzählte. Es entstand also Satz um Satz und weil es den Kindern so gefiel, musste ich es immer und immer wieder erzählen. Danach schliefen die Kinder friedlich ein.
Der sprechende Birnbaum
Es war einmal ein schöner Frühlingstag. Da gingen Max und Maia, zwei Geschwister im Alter von 8 und 6 Jahren miteinander spazieren. Dieses Mal wollten sie das Riedenholz etwas näher erkunden und machten sich auf den Weg. Sie benützten die Riedenholzstrasse und kamen vorbei an der Gärtnerei Ammon bald zum Wald. Anfänglich verlief die Strasse entlang dem Erlenholz, dem östlichen Teil des Waldes. Dann überquerten sie den mittleren und den vorderen Riedenholzbach, deren Wasser sich hier vereinte und dann als etwas grösserer Bach über das Bennenried durch sumpfiges Gebiet in Richtung des Katzenbachs floss. Das interessierte die beiden allerdings nicht so stark, denn heute wollten sie nicht an einem Bächlein spielen, sondern Neuland entdecken.
Schon führte der Weg in den Wald und hin zu einer Verzweigung. Nach links ging es ins Ulmenholz und weiter zu den Förrlenen. Nach rechts führte die Riedenholzstrasse weiter in Richtung Käshaldenreben. Und genau diesen Weg nahmen sie. Auf der linken Seite hörte der Wald bald auf und machte grossen Getreidefeldern Platz. Entlang der Strasse floss ein kleines Bächlein, der mittlere Riedenholzbach. Rechts war dichter Tannen-, Eichen- und Buchenwald. Aus reinem Gwunder überquerten sie mit einem kleinen Sprung das Bächlein und drangen in den Wald. Hier war es etwas kühler und entsprechend angenehmer. Also blieben sie im Wald, gingen aber immer schön dem plätschernden Bächlein entlang, damit sie den Weg nicht verloren. Manchmal sahen sie zwischen den Bäumen hindurch auf den Weg, der jetzt immer schmaler wurde. Im Walde hörten sie Eulen und viel Vogelgezwitscher. Die dämmerige Stimmung im hier ziemlich dichten Wald war neu für sie und entsprechend fasziniert gingen sie weiter des Wegs, bis sie den nördlichen Waldrand erreichten. Nun verliessen sie den Wald wieder und übersprangen das Bächlein erneut.
Der Weg führte nun zwischen hohem Gras hindurch. Hier wuchsen viele Mohnblumen entlang den Getreidefeldern. Am Bächlein blühten die letzten gelben Lilien und vereinzelt sogar noch etwas Löwenzahn. Bienen flogen den Kindern um die Kopf und dann und wann gaukelte auch ein gelber Zitronenfalter vorbei. Langsam ging es leicht bergan und nicht mehr weit vor sich sahen sie die ersten Rebberge. Es war eine ganz neue Welt, welche sich den Kindern auftat, denn bis hierher waren sie noch nie vorgedrungen.
Mit einem Mal wurden sie von einem Windzug erfasst und schauten ganz überrascht zum Himmel. Da sahen sie, wie vom Westen her eine grosse Gewitterwolke immer näher kam. Die Sonne verschwand hinter den ersten Vorboten dieser Wolke und sie sahen von weitem die ersten Blitze zucken und hörten auch den Donner, wenn auch erst ganz leise. Ã?ngstlich fragte Maia ihren Bruder: "Was machen wir nun? Wir werden ja ganz nass und ausserdem habe ich Angst vor Gewittern". Da antwortete Max: "Da vorne sehe ich ein Bienenhaus. Vielleicht können wir dort unterstehen." So gingen sie rasch weiter in Richtung Bienenhaus und kamen an einem Birnbaum vorbei. Noch ehe sie den Baum erreichten, fielen schon die ersten vereinzelten Regentropfen und im gleichen Augenblick hörten sie eine tiefe Stimme, die vom Birnbaum her sprach: "Keine Angst! Kommt schnell in mein Haus!" Und ehe sie sich versahen, öffnete sich am dicken Stamm des Baumes eine von aussen unsichtbare Türe. Die Kinder erschraken zuerst etwas, schauten in das Innere und sahen eine Treppe, welche abwärts führte.
Max forderte seine Schwester auf, mitzukommen und als sie die ersten Treppenstufen hinunter gingen, schloss sich die Türe hinter ihnen, wie von Geisterhand bewogen. Nun waren sie eingeschlossen, aber die Stufen in die Tiefe waren hell. Sie gingen weiter und kamen bald tief unter der Erde in einen grossen, lichten Raum. Alles war in Holz gefasst und in der Mitte gab es einen Tisch mit vier Stühlen. Nun meldete sich die tiefe Stimme erneut und forderte die beiden auf, Platz zu nehmen. Etwas unsicher zogen sie die Stühle vom Tisch und setzten sich. Da kamen zwei Gläser durch die Luft geschwoben und landeten lautlos auf dem Tisch. Wie aus dem Nichts füllten sie sich mit süssem Most. Dann kamen zwei Weggli geflogen und setzten sich neben die beiden Gläser und die tiefe Stimme hub erneut an und sagte: "Ich habe euch herein gelassen, weil ihr sonst ganz nass geworden wäret und bei einem Gewitter solltet ihr nicht spazieren gehen! Passt in Zukunft immer auf und schaut ab und zu auch mal zum Himmel, sodass ihr noch rechtzeitig heim kehren könnt. Nun trinkt den feinen Most, esst die frischen Weggli und schaut einmal her, wovor ich euch bewahrt habe!"
Dann öffnete sich eine Luke an der Decke und die beiden konnten sehen, wie es draussen stürmte, regnete, blitzte und donnerte. Ein lauter Donnerhall nach dem andern erscholl. Aber wie durch ein Wunder drang kein Tropfen Regen in den Raum. Nur das Wüten des Gewitters war zu sehen und zu hören. Max und Maia begannen ihren Most zu trinken und das Weggli zu essen und schauten ganz verstört zu der Luke, wo sie das Unwetter immer weiter wüten sahen. Erst nach einer halben Stunde hörte es auf zu regnen und im gleichen Augenblick sagte die tiefe Stimme: "So, ihr beiden! Jetzt könnt ihr wieder gehen. Die Gefahr ist vorbei. Und dass ihr nie mehr unter einem Baum steht, wenn es gewittert. Das ist gefährlich. Und verlasst euch nicht auf die Birnbäume. Solche Bäume wie mich gibt es nur ganz wenige!"
Die Kinder standen auf und bedankten sich beim Birnbaum für Most und Weggli und für den guten Rat. Als sie die Treppe hinauf gingen, kam ihnen bereits ein frischer Wind entgegen, denn die Türe öffnete sich gerade und die beiden gingen auf schnellstem Weg zurück durch das Riedenholz nach Hause. Die Eltern staunten nicht schlecht, als sie die beiden Kinder wohlbehalten und ganz trocken zurück kehren sahen. Voller Erleichterung nahmen sie diese in Empfang und drückten sie an sich. Nun mussten sie erzählen, was sie erlebt hatten, doch Vater und Mutter schauten sich verwundert an, konnten nicht glauben, was die Kinder da erzählten und dachten, die hätten bei Tage geträumt oder nicht alle Tassen im Schrank.
"Doch, doch, Mami, das stimmt alles ganz genau!" wehrte sich Maia gegen die Ungläubigkeit der Eltern. Und Max meinte etwas trotzig: "Ich kann euch ja zeigen, wo der Birnbaum steht." Die Eltern trauten der Sache nicht und so machten sich alle vier erneut auf den Weg ins Riedenholz und die Kinder führten die Eltern hin, bis sie vor dem Birnbaum standen. Nun rief Max: "Birnbaum, hörst du mich? Meine Eltern wollen nicht glauben, dass es dich gibt!" Da ertönte die tiefe Stimme abermals und sagte: "Kommt herein!" Wieder öffnete sich die Tür und Max ging sofort voran, gefolgt von Maia und den Eltern. Schon waren sie im Raum und die tiefe Stimme forderte sie alle auf, Platz zu nehmen. Und noch ehe sie richtig sassen, kamen Gläser geflogen, füllten sich mit Most und auch die Weggli liessen nicht lange auf sich warten. Die unsichtbare Stimme fragte nun die Eltern: "Habt ihr euren Kindern nicht geglaubt? Warum denn nicht?" Die Eltern schauten etwas beschämt drein und wussten nicht, was sie sagen sollten. Da hub die Stimme erneut an und sagte: "Es würde nichts schaden, wenn die Eltern ihren Kindern etwas mehr Glauben schenken täten und etwas mehr auf sie hörten! Trinkt nun euren Most und esst die Weggli und haltet euch an meinen Rat!" Dann standen alle wieder auf und schlenderten ziemlich nachdenklich nach Hause.
Von diesem Tage an hörten die Eltern den Kinder viel aufmerksamer zu und die Kinder hüteten sich jetzt erst recht, etwas Unwahres zu sagen. So hat denn ein einfacher Birnbaum schon ganz früh mit dafür gesorgt, dass aus den Kindern zwei wackere Menschen wurden.