Im Kindergarten von Frau L. Niederer an der Seebacherstrasse 63 herrschten ziemlich strenge Regeln hinsichtlich Garderobenordnung, Ordnung in den Spielzeugschränken und Ordnung überall sonst. Sie lehrte die Kinder nicht nur Ordnung zu halten, sondern sie kontrollierte auch, ob sie sich daran hielten. Da meine Familie erst im Oktober 1949 nach Seebach zog, wurde ich dieser Kindergärtnerin mitten im Schuljahr zugeteilt und so hatte ich auch keine Kenntnisse von jenem Ordnungssystem, welches sie den anderen Kindern schon im Frühling bei brachte.
Nur ganz wenige Tage nach meinem Schuleintritt gab es dann prompt Schimpfis nach der Pause. Frau Niederer nahm mich am Ohr und zog mich sanft zwar, aber unerbittlich in den Korridor zur Garderobe und zeigte auf meine Schuhe, welche dort ein bisschen schräg standen und deren Schuhbändel in alle Richtungen schauten, nur nicht dorthin, wo sie sollten. Nun liess sie mein inzwischen etwas heiss gewordenes Ohr los und hielt mir eine Standpauke, bei der ich zu meiner grossen Verwunderung erfuhr, dass man nach dem Ausziehen der Schuhe die Bändel in das Schuhinnere zu versorgen habe. Alles andere sähe aus wie ein Saustall. Ziemlich verdattert nahm ich darauf hin meine Schuhbändel und versorgte sie in den Schuhen und dann richtete ich diese noch ganz exakt gerade und sauber im rechten Winkel, sodass es eine Falle machte. Da ich noch ein halbes Jahr bei Frau Niederer zur Schule ging, hatte ich genügend Gelegenheit, mir diese Gewohnheit anzueignen.
Eher staunend sah ich dann, dass zu Hause weder der Papi noch das Mami noch die Geschwister sich an die Niederer'schen Ordnungsprinzipien hielten. Ich war fortan der Einzige in der Familie, hielt mich dennoch weiterhin an die Niederer'sche Ordnung und lebte weiterhin ganz bewusst als einziger Ordnungsmensch innerhalb der Familie in einem «Saustall». Dass ich trotz falschem Vorbild nicht zur Unordnung zurück kehrte, kam mir dann in der RS zu Gute, wo ich bei der Plankenordnung im übertragenen Sinne das Schuhbändelprinzip anwandte und mit dem Feldweibel daher nie Ärger hatte. Das Niederer'sche Ordnungsprinzip zog ich bis heute durch und zwar auch in allen anderen Gebieten, wo Ordnung Sinn machte. Wenn es nötig wurde, kaufte ich eben einen Ordner und legte alles sauber nach Alphabet ab. Mit Verdutzung nehmen es meine lieben Mitmenschen bis heute wahr.
So wollte die Lehrerin die Schuhbändel in den Kinderschuhen sehen. Etwas anderes kam nicht in Frage. Bei der Ausrichtung der Schuhe in Winkelgraden gegenüber denjenigen des Nachbarn war sie immerhin etwas weniger streng.