OGS Seebach - Beitrag

Pagliano-Tante
Personen – Übrige – historisch
Vorgeschichte

1877-1962. Der richtige Name der Pagliano-Tante lautete Petronella D'Acierno-Mabellini und nicht Tacerna oder Tacerno, wie gelegentlich geschrieben wird. Petronella D'Acierno war eine Heilpraktikerin in Seebach und genoss einen sagenhaften Ruf. Das berühmte Abführmittel, welches sie am Anfang ihrer Kuren einsetzte, hiess Pagliano und nicht Bagliano. Dies einfach, um vorerst einmal die wichtigsten Irrtümer über die Pagliano-Tante zu beseitigen.

Petronella D'Acierno wohnte von 1920-1926 an der Schärenmoosstrasse 57, dem letzten Haus vor der Thurgauerstrasse. Vom heutigen Zentrum Seebachs aus gesehen auf der linken Strassenseite. Das Haus stand 2006 immer noch. Ihre Eltern lebten in Neapel, ihr Heimatort war Monteforte bei Neapel. Das liegt ganz in der Nähe von Avellino. Ihr leiblicher Vater stammte aus dem Appenzellerland und hiess Wydler. Er starb früh und ihre Mutter Maria Elisabetha Wydler heiratete erneut und zwar den Mosé Mabellini, welcher nun ihr Stiefvater wurde. Der ledige Name der Pagliano-Tante war somit zuerst Petronella Wydler. Da ihr Stiefvater Petronella adoptierte, hiess sie danach Petronella Mabellini. Der Vorname des leiblichen Vaters ist noch nicht ermittelt. Auch die Nationalität von Petronellas Mutter ist noch nicht ermittelt. Sie könnte im Prinzip eine Schweizerin gewesen und mit ihrem Mann nach Neapel ausgewandert sein. Sie könnte aber auch eine Italienerin gewesen sein und ihren Mann erst in Italien geheiratet haben. Erst der ledige Name von Petronellas Mutter könnte dies klären.

Jugendzeit

Über ihre Jugendzeit in Italien ist nur sehr wenig überliefert. Das Verhältnis zu ihrem Stiefvater war nicht das beste, sodass er sie nach Lissabon zu einer Tante brachte. Sie besuchte dort aber nicht die Schule, sondern reiste offenbar mit ihrer Tante weiter nach Abessinien, dem heutigen Äthiopien. Dort beendete sie die Schulzeit, wobei Petronella die arabische Sprache lernte. Da man dort ihre Begabung für die Heilkunst entdeckte, bildete man sie entsprechend aus. Sie ging angeblich bei Kaiser Menelik ein und aus (Wortlaut in Eggenbergers Schmunzelbüchlein), was wohl darauf hindeutet, dass ihre Tante eine Beschäftigung am kaiserlichen Hof bekam. Um 1896 kehrte sie mit ihrer Tante nach Neapel zurück. Wegen der langen Abwesenheit, musste sie italienisch von neuem lernen.

Heirat

Sie kehrte 1897 mit ihrem Verlobten zurück in die Schweiz, wo ihr Vater herstammte und heiratete am 8.1.1898 ihren Vincenzo Martino D'Acierno, wo sie offenbar problemlos aufgenommen wurde, da sie ja über ihren leiblichen Vater schweizerische Wurzeln hatte. Sie nahm Wohnsitz in der Stadt Zürich. Ihr Mann bekam dank seiner Ausbildung als Schneider eine Stelle als 1. Zuschneider bei der PKZ. Sie gebar 1898 Sohn Ribelle. Danach bekam sie fast Jahr für Jahr ein Kind, 1899 Grazia, 1900 Michelangelo, 1901 Esther, danach folgten 2 Fehlgeburten, 1908 Irma, 1911 Spartaco Amleto und 1916 noch die Jone. Petronella D'Acierno brachte also alle ihre Kinder in der Schweiz zur Welt und zwar ausnahmslos in Zürich. In Zürich nannte sich Vincenzo, der Mann von Petronella, dann Martin (sein eingedeutschter 2. Vorname).

Leider leistete er sich diverse Affären mit anderen Frauen, sodass sich Petronella und Martin irgendwann trennten und ab etwa 1905 nicht mehr ständig beisammen wohnten. Er soll nach Italien zurück gekehrt sein, kam aber regelmässig zu Petronella zurück und wohnte dann jeweils eine Weile bei ihr, was den weiter andauernden Kindersegen nach 1905 zu erklären vermag. Letztmals war das 1916 der Fall. Danach sollen ihm die älteren Söhne den Zutritt zur Wohnung verweigert haben.

In Zürich lernte Petronella nun auch noch Deutsch, ihre mittlerweilen dritte Sprache. Weitergehende Nachforschungen ergaben, dass das Haus an der Schärenmoosstrasse 57 um 1950 im Besitze von Tochter Esther D'Acierno war und dass dort auch noch ein Maler namens A. D'Acierno wohnte. Der abgekürzte Vorname A., welcher im Adressbuch von 1950 eingetragen ist, dürfte ein Vorname sein, welcher Ribelle in der Schweiz annahm, denn bei dem Maler handelte es sich ganz offenkundig um Petronellas ersten Sohn Ribelle. Vielleicht war es wie beim Vater der zweite Vorname. Esther und Ribelle sollen 1926 mit nach Heiden gegangen sein und später wieder in das Haus nach Zürich zurückgekehrt sein. Da Jone, geboren 1916, ihren Vater kaum mehr gesehen hat, kann dieses Datum als mutmasslicher Zeitpunkt für den letzten Aufenthalt Martin D'Aciernos betrachtet werden. Dieser verliess jedoch, wie bereits angedeutet, schon um 1905 die Schweiz und kehrte nach Neapel zurück. Abgesehen von seinen Kurzaufenthalten bis 1916 ward er jedoch nie mehr gesehen.

Erste Schritte zum selbständigen Überleben

Anfänglich wohnte Petronella weiterhin in der Stadt Zürich, wo sie als Spetterin (Haushaltshilfe) arbeitete und zu Wohnungen und Häusern schaute. Sie zog ca. 1920 nach Seebach, wo sie als Hilfsarbeiterin in der Zigarettenproduktion bei der im gleichen Jahr neu gegründeten Turmac AG an der Friesstrasse 32-34 arbeitete. Bezeugt ist ihre dortige Anstellung für das Jahr 1922.

Zwischendurch begann sie nun, kranken Leuten gute Ratschläge zu geben. Dabei soll es dem Direktor der Turmac, Robert Burrus, einmal gesundheitlich sehr schlecht ergangen sein und weil ihm sein Arzt auch nicht weiterhelfen konnte, holte man die Pagliano-Tante aus der Fabrikation, welche ihn nur kurz anschaute, ein paar Ratschläge gab, insbesondere, was er zu ändern habe und wie durch ein Wunder soll der Mann sehr rasch wieder gesund geworden und auch geblieben sein. Es heisst, dass dieser Vorfall ihren Ruf als Heilerin in Seebach recht eigentlich begründet habe. Noch heute können sich etliche Seebacher und Seebacherinnen an Petronella und ihre Kinder erinnern, da die drei jüngsten, Irma (1908), Spartaco alias Peter (1911) und Jone (1916), hier zur Schule gingen. Für die letzten drei Kinder wird der Schulbesuch im Schulhaus Buhn von mehreren alten Seebachern und Seebacherinnen bestätigt. Die Hinweise dazu sind allerdings spärlich. Niemand kann sich aber an alle 3 Kinder zugleich erinnern.

Manche erzählen von weiteren Kindern dieses Familiennamens, mit welchen sie zur Schule gegangen sein wollen, doch handelte es sich dabei offensichtlich um Enkelkinder. Anfänglich arbeitete Petronella weiterhin als Packerin bei der Turmac.

Nächste Schritte zur vollen Selbständigkeit

Die guten Ratschläge gab sie nach Feierabend, meist auf dem Trottoir vor der Fabrik an ihre wartende Kundschaft. Dabei soll sie als Beginn der Heilkur das Abführmittel «Pagliano» empfohlen haben. Dieses führte bei ausnahmslos allen Patienten zu einem sehr schlagartig einsetzenden, kräftigen und nachhaltigen Durchfall, welcher an Plötzlichkeit und Unwiderstehlichkeit durch nichts zu überbieten war. Erst nach erfolgter gründlicher Säuberung der Gedärme von allen schädlichen Stoffen begann sie, ihre Kunden zu beraten, wobei es meist ein Kaffee-, Rauch- und Alkoholverbot und anschliessend die Verordnung einer gesunden Ernährungs- und Lebensweise absetzte. Danach erfolgte der Einsatz von Naturheilmitteln aus dem Kräuterbereich, wovon nicht wenige ebenfalls von Professor Pagliano stammten. Welche das waren, ist noch offen.

Ihre Empfehlungen erfolgten stets in einer unmissverständlich einfachen Volkssprache. Ihren Kunden sagte sie ungeniert: "Du weniger suufe-n-und-rauche..." oder: "Du weniger frässe...". Nachdem ihre Heiltätigkeit immer besser lief, gab Petronella ihre Arbeit bei der Turmac auf und beriet ihre Kundschaft fortan in ihrem Haus an der Schärenmoosstrasse 57.

Petronella erstellte keine Rechnungen für ihre Ratschläge, sondern sie liess sich beschenken, indem sie eine kleine Kasse aufstellte, wo diejenigen, die zahlen konnten, das gaben, was ihnen angemessen erschien. Von Bedürftigen nahm sie nichts, behandelte sie aber, wie wenn sie zahlten. Dennoch konnte sie die grosse Familie gut über die Runden bringen und sogar noch etwas zur Seite legen.

Das Pagliano

Die Heilerfolge sprachen sich herum und der Apotheker Schalch von der Rütli-Apotheke in Örlikon war stets bemüht, genügend «Pagliano» liefern zu können. Weil sich aber die Verwendung von Pagliano rasch herum sprach, gab es auch Leute, welche das Mittel direkt bei Dr. Schalch besorgten, ohne sich von Petronella beraten zu lassen, einfach so, dass man für den Notfall gerüstet war. Das führte dazu, dass Apotheker Schalchs Pagliano-Vorrat manchmal ausging, bevor der Nachschub aus Barcelona eintraf. Und dies wiederum führte dazu, dass wenn Schalch wieder liefern konnte, die Kunden vorsichtshalber gleich zwei oder drei der roten Schachteli posteten. Dies wiederum hatte zur Folge, dass Pagliano ein Mittel blieb, welches bei Dr. Schalch stets knapp war.

Es wurde von Professor Ernesto Pagliano aus Neapel auf der Basis eines arabischen Rezeptes produziert. Das Medikament wurde in Barcelona bei den Laboratorios Quimicos-Farmacéuticos J. Uriach & Co. SA hergestellt. Seine Rezeptur bestand aus Senna, Baumharz, Jalapenwurzel, Zwetschgenmarmelade (!), Agar-Agar usw. Die abführende Wirkung wurde vor allem durch das Senna erreicht. Die Schweizerische Heilmittelkontrolle (SHK) hat dem Medikament schon vor ziemlich langer Zeit wegen der rabiaten Wirkung die Zulassung entzogen. Das Medikament ist auch im Ausland schon lange nicht mehr erhältlich und gilt heute als historisch. In einem Museum der Universität Barcelona für spanische Pharma-Produkte ist ein Original-Pagliano-Schachteli ausgestellt.

Da Petronella mit ihren Behandlungen echte Heilerfolge erzielte, kam dies dem Seebacher Gemeinderat zu Ohren, so wie sich eben kleine "Wunder" herumsprechen. Auch der beträchtliche Pagliano-Umsatz sprach sich herum und weil bald jede Hausfrau ein rotes Schachteli im Giftschrank führte, wurde auch dies zu Seebacher Allgemeinwissen. Nicht zuletzt bemerkte sogar das Seebacher Steueramt, dass Petronellas Einkommen beim besten Willen nicht mehr als Nebeneinkunft betrachtet werden konnte. Auch die Heimberatung, welche immer mehr den Charakter einer Arztpraxis annahm, konnte nicht unbemerkt geblieben sein, vor allem nicht bei den konkurrenzierten Ärzten Seebachs und Örlikons.

Zu den Kunden von Petronella D'Acierno zählten zuletzt Hunderte von Seebacherinnen und Seebachern. Namentlich überliefert und gesichert sind noch folgende, wenige Kunden:

- Robert Burrus
- Berta Marti-Bühler, als Kleinkind
- Otto Bühler (in Kanada seit 50 Jahren), als Kleinkind
- Berta und Otto Bühlers Mutter
- Edith Oppikofer (reiste 1962 nach Heiden zur Behandlung)

Konkurrenzneid der Ärzte?

Der Gemeinderat, welcher bis jetzt das Wirken der Naturheilkundlerin offenbar als harmlose Plauderstündchen einstufte und vorerst stillschweigend zu dulden schien, sah sich vermutlich zum Handeln gedrängt. Üblicherweise ist es aber nicht der Gesundheitsvorstand einer Gemeinde, welcher ein Berufsverbot ausspricht, sondern die Gesundheitsdirektion des Kantons. Noch unerforscht ist, ob letztlich Frau D'Acierno verpfiffen wurde oder ob sie wegen ihrer Unbekümmertheit über die gesetzlichen Vorschriften sich selber überführt hat.

Albert Burkhardt schrieb in seinem Büchlein, dass Frau D'Acierno irgendwann in Vergessenheit geriet, was auf gewisse Art auch stimmte, doch ist das nur die halbe Geschichte. Die andere Hälfte ist die folgende:

Im Jahre 1926 flatterte der guten Frau von einem kantonalen Amte ein geharnischt' Schreiben ins Haus, worin man ihr mitteilte, dass ihr mit sofortiger Wirkung und gestützt auf das kantonale Gesundheitsgesetz die weitere Heiltätigkeit auf dem gesamten Gebiete des Kantons Zürich strengstens untersagt sei und dass ihr im Widerhandlungsfalle ein Strafverfahren mit Busse oder Arrest drohe. Als Petronella mit dem Lesen des amtlichen Erlasses staunend zu Ende kam, zeigte sie das leidige Papier dem Apotheker Schalch in Örlikon, worauf dieser ihr riet, ihre Arbeit dort weiterzuführen, wo dies erlaubt sei. So endete ihre Seebacherzeit ziemlich plötzlich.

Umzug nach Heiden

Petronella musste das Haus an der Schärenmoosstrasse 57 und den Kundenstamm aufgeben und den Kanton Zürich verlassen. Schalch vermittelte ihr im appenzellischen Heiden die Wirtschaft «Neubad». In aller Hastigkeit übersiedelte sie mit ihren Kindern an den neuen Ort. Später kamen Esther und Ribelle A. wieder zurück nach Seebach. Sie bewohnten weiterhin das Haus an der Schärenmoosstrasse 57, welches 1950 auf den Namen seiner Schwester Esther lautete, bis weit nach 1950. Dazu weiss Max Broggi noch mehr, wie er der OGS gegenüber erwähnte! So zum Beispiel, dass ein Nachfahre der Pagliano-Tante in Rümlang beerdigt wurde.

In Heiden baute sich Petronella in kurzer Zeit eine neue Existenz auf, in einem Kanton, welcher ein erheblich anderes Gesundheitsgesetz kannte als der Kanton Zürich und welcher sich nicht unnötig in ihre Heiltätigkeit einmischte, solange sie diese mit dem nötigen Augenmass ausübte. Hier ist noch anzufügen, dass Petronella stets ihre Grenzen kannte und keine kritischen Akutpatienten behandelte. Diese schickte sie ausnahmslos zu einem Arzt oder ins Spital. Glücklicherweise waren nicht alle ihre Seebacher Patienten arm, sondern konnten sich ein Bahnbillet nach Heiden leisten und so kamen sie aus Seebach, Örlikon, Schwamendingen und Zürich vorerst noch in Scharen ins Neubad und verhalfen Petronella zu einem raschen Aufbau ihrer neuen Existenz.

Mit der Zeit liess die Kundschaft aus Zürich zahlenmässig nach, da sie die Leute ja heilte und diese ihre Hilfe danach nicht mehr brauchten, doch fanden sich bald genügend neue Kunden aus der Nähe in ihrer Praxis. Im Neubad betrieb sie neben ihrem Beratungszimmer eine Wirtschaft, wo ihre Kunden stets auch assen und tranken und zwar in so grosser Zahl, wie nie zuvor. Zwei Söhne (Ribelle und Michelangelo) arbeiteten in der Küche und die grösseren Töchter besorgten den Service. Da Petronella nur über ein einziges Beratungszimmer verfügte, beriet sie die Kunden gleich zu mehreren aufs Mal!!!

Wegen den stattlichen Töchtern (Wortlaut «Frauenleben Appenzell», Seiten 590-596), gemeint waren Grazia, Esther und Irma, kamen auch viel mehr jüngere Gäste in die Wirtschaft, vermutlich nicht wegen Petronella. Diese Gäste besuchten lieber die Gaststube mit den eben genannten stattlichen Töchtern und bevorzugten ein «Heilwasser» auf Hopfenbasis. Was die Stattlichkeit der Töchter betrifft, war damit nicht etwa deren Gewicht oder die Breite des Körperbaus gemeint, sondern deren Eleganz und Grazie. Sie sollen allesamt nach dem damaligen Geschmack sehr hübsch gewesen sein.

Ausbau der Praxis

Schon nach kurzer Zeit hatte sich Petronella auch am neuen Ort wieder einen hervorragenden Ruf geschaffen. Bald einmal war die Wirtschaft zu klein und im Jahre 1930 konnte sie die «Pension Turm» von den Osterwalders übernehmen, welche Platz für 30 bis 40 Kurgäste bot. Da am Anfang jeder Kur die Pagliano-Behandlung stand, dürfte dieses Kurhaus über eine sehr leistungsfähige Toilettenanlage verfügt haben. Apotheker Schalch versorgte Petronella weiterhin von Örlikon aus mit dem Pagliano per Post. Im neuen Kurhaus konnte Petronella nun Zimmer anbieten und die Gäste voll betreuen. Die Preise waren mit Fr. 6.-- pro Kurtag sehr günstig. Sie bot Massagen an (durch Sohn Michelangelo), Wickel, Schröpfen, Bewegung, frische Luft, Wasseranwendungen, Tee und gesunde Kost (durch Grazia, Esther und Irma). Daneben verabreichte sie auch noch einige andere, auf Pflanzenbasis fussende Medikamente, teilweise ebenfalls von Professor Pagliano.

Zur Zeit der Kinderlähmungs-Epidemie um 1950 herum sah der Heidemer Bahnhofvorstand Jakob Hohl Leute kommen, die kaum mehr gehen konnten und er sah sie nach der Kur wieder heimfahren, jetzt allerdings ohne Krücken. Petronella betrieb auch einen kleinen Teehandel. Zusammen mit ihren Töchtern Grazia, Esther und Irma betrieb sie das Kurhaus bis 1956, wobei Grazia und Esther irgendwann weg zogen und ihr eigenes Leben führten. Danach überliess sie es ihrem Sohn Michelangelo und zog sich im Alter von bereits 79 Jahren aufs verdiente Altenteil zurück. Dabei verfiel sie aber nicht etwa dem süssen Nichtstun, sondern sie behandelte einfach im wesentlich kleineren «Pöstli» im Schmittebüel weiterhin Patienten, bis sie im Alter von 85 Jahren selber entschlummerte. Eine ihrer letzten Seebacher Patientinnen war Edith Oppikofer. Bei ihrem Besuch im Jahre 1962 traf sie die Pagliano-Tante am Boden liegend, da sie eine Treppe hinunter gestürzt war. Das war wenige Wochen vor ihrem Hinschied.

Petronella D'Acierno hat ihre Gäste nie über den Tisch gezogen. Ihre Tarife waren bis zuletzt bescheiden. Wer kein Geld hatte, den heilte sie weiterhin umsonst. Die ganze Familie D'Acierno ist bei den Heidemern in sehr angenehmer Erinnerung geblieben. Sie hat wohl Tausenden von Kurgästen geholfen und sehr viele davon auch geheilt. Man sagt in Heiden, sie sei medizinisch gesehen, sehr erfolgreich gewesen. Über sie wurde schon einiges veröffentlicht. Eine Ausstellung im Appenzeller Volkskundemuseum in Stein widmete sich im Herbst 2005 den vier bekanntesten Naturheilern Appenzells und da war sie mit dabei. Es soll sogar ein kleines Taschenbuch von einer Autorin existieren, welches den Lebenslauf Petronellas erzählt. Leider konnte die OGS dieses Buch bis heute nicht auffinden. Es wird in der Bodensee-Bibliografie erwähnt. Der Name der Autorin ist noch nicht eruiert. Petronella galt seinerzeit als die berühmteste Naturärztin im Kanton und man sagte, sie hätte schier unglaubliche Heilerfolge erzielt. Sie galt aber auch als schillernde Figur mit Ecken und Kanten. Sie hat aber nie einen Menschen gesundheitlich gefährdet.

Fazit:

Was ist da Seebach entgangen, was hat es alles verpasst und das allein wegen eines etwas zu streng ausgelegten Gesundheitsgesetzes, welches ganz auf die Bedürfnisse und Interessen der studierten Ärzte ausgerichtet war und die Möglichkeiten der Naturheilkunde stark einschränkte! Wie die Kantone Appenzell seit Jahrzehnten beweisen, geht es auch anders.

Petronella hatte auch Humor. Einen träfen allerdings. So soll sie einmal mit ihrem Enkel René Sonderegger in Zürich gewesen sein. Da sagte sie plötzlich zu ihm: "Schau mal die Frau da, die hat die Maul- und Klauenseuche". Gemeint hatte sie damit die roten Fingernägel und die rot angemalten Lippen einer Dame, die gleich nebenan stand. Sie galt auch als Dorforiginal, trug stets eine Rundum-Schürze und gab gerne jüngeren Kindern die Hand, in welcher sie einen lebendigen Frosch versteckt hielt, den sie vorher in der Tasche bei sich trug. Die Kleinen erschraken nicht schlecht, quietschten laut und sprangen davon.

Von der Pagliano-Tante soll es auch ein Gemälde geben, welches bei einem unbekannten Seebacher lange Jahre an der Wand hing. Es stammte von Werner Huber. Dafür liegt der OGS eine kleine Notiz vor, auf der leider jegliche näheren Hinweise fehlen.

Epilog

Zum Schluss noch eine Kostprobe aus Peter Eggenbergers Schmunzelbüchern: Als die Pagliano-Tante ihre Kundschaft bereits im «Pöstli» empfing, kam ein gewisser Herr Hohl vorbei, welcher stets zur Naturärztin ging, wenn ihm etwas fehlte. Doch diesmal beschied sie ihm, dass sie im vorliegenden Fall nicht zuständig sei und er zu Dr. Niederer gehen müsse. Dieser Arzt bemerkte sofort, dass er den Patienten schon lange nicht mehr in der Sprechstunde hatte und fragte ihn: "Soo, Hohl, bi wäm sinder dänn bis jetz i Behandlig gsii?" Der Mann bekam ein rotes Gesicht und rang nach Worten. Dann gab er zu, dass er stets bei der Pagliano-Tante ein- und ausgegangen sei. Da fragte der Arzt: "Und was hätt sie eu für en Schmarre-n-aaggää?". Da antwortete der Hohl: "Ja, ebe, das i söll zu eu choo!". Da mussten sie beide ein wenig schmunzeln.

Ergänzung:

- Peter Eggenbergers Bücher mit Pagliano-Tanten-Geschichten heissen «Läse ond lache», «Druss ond Drii» sowie «Früener ond Hütt». Man kann sie direkt beim Buchautor in 9427 Zelg (Wolfhalden) bestellen. Um keine falschen Vorstellungen zu wecken: In den drei im Dialekt geschriebenen Büchlein nimmt die Pagliano-Tante natürlich nur einen sehr kleinen Raum ein. Die übrigen Geschichten drehen sich um Lokalgrössen, welche mit Seebach nichts zu tun haben. Dennoch sind die Büchlein sehr zu empfehlen. Peter Eggenberger war ursprünglich Lehrer und wandelte sich dann zum Zeitungsberichterstatter und Buchautor. Er hat mittlerweilen ein gutes Dutzend Bücher geschrieben, darunter viele mit Schmunzelgeschichten. Zu Peter Eggenberger gibt es einen eigenen Beitrag, siehe dort!

Anhang:

- Der Nachfolger von Schalchs Apotheke am Marktplatz Örlikon, Dr. W. Hofmann, etwa ab 1950, hat nach Angaben des heutigen Inhabers der Amavita-Apotheke, Dr. Hämmig, leider keine historischen Unterlagen zurückbehalten, sodass von dieser Seite keine weiteren Angaben zur Pagliano-Geschichte erwartet werden können.

- Die Geschichte der Pagliano-Tante kennt heute kaum mehr jemand im Detail, auch nicht annähernd. Aber sehr viele Personen hatten Kenntnisse über dieses und jenes. Aus diesem Einzelwissen setzte die OGS mit erheblichem zeitlichen Aufwand diesen Beitrag zusammen. Keine der nachfolgend genannten Quellen kann auf bestimmte Aussagen behaftet werden, weil solche Aussagen erst im Zusammenhang eine gewisse Bedeutung erlangten. Die Bekanntgabe der Quellen ist im Interesse der Glaubwürdigkeit aber unerlässlich. Viele Aussagen waren nach so langer Zeit mit vertretbaren Aufwand gar nicht mehr exakt zu rekonstruieren, daher können einzelne Passagen in diesem Beitrag durchaus ungenau sein. Diesen Nachteil musste die OGS inkauf nehmen. Da doch einiges zusammenkam, kann die OGS mit der Lückenhaftigkeit leben. Dennoch ist dieser Eintrag so authentisch wie eben noch möglich. Die Haftung für den Inhalt liegt daher alleine bei der OGS. Inhaltliche Verbesserungen werden, wenn sie gesichert sind, gerne entgegen genommen. Der OGS stehen zahlreiche weitere Informationen zur Pagliano-Tante und ihrer Familiengeschichte zur Verfügung, die aber nicht von öffentlichem Interesse sind. In begründeten Einzelfällen können diese Unterlagen eingesehen werden.

Quellen:
- Peter Eggenbergers drei Büchlein
- René Sonderegger (Angaben zu den Urgrosseltern Wydler/Mabellini)
- verschiedene Zeitungsberichte
- Appenzeller Jahrbuch
- Buch von Konrad Sonderegger «Als man noch nicht demonstrierte»
- Buch «Frauenleben Appenzell»
- Hermann Pfyffer
- Rudolf Rohner
- Brigitte Steffen
- Alfred Conté
- Albert Bader
- Max Broggi
- Trudi Bodenmann-Müller
- Trudi Estermann-Meier
- Ernst Schmid
- Edith Oppikofer
- Berta Marti-Bühler
- http://estel.bib.ub.es/pharamakoteka/registre.php?id=937 (26.12.2005)
- Albert Burkhardt's Taschenbuch «Blosse Füsse, blutige Zehen, blaue Wunder», Seite 96-98
- Festführer des Sängerfests in Seebach 1925 (Inserat Rütli-Apotheke)

zurück | Beitrag drucken

Themengebiete